SUBVERSIVE SENSUALITÄT, Keiyona C. Stumpfs Skulptur (Lóránd Hegyi), in: GRIP OF NATURE, Ausstellungskatalog, Galeria Antonella Villanova, 2024
Es ist äußerst bemerkenswert in unserer zeitgenössischen ästhetischen Diskurs- Kultur, welche vor allem von ziemlich simplifizierten, nicht präzis konzeptualisierten, eng definierten – oder gar nicht definierten – quasi-politischen und ideologischen Kategorien determiniert wurde, dass die Künstlerin Keiyona C. Stumpf nach der Komplexität der Schönheit, beziehungsweise nach dem schöpferischen Prinzip der natürlichen Erscheinungen in ihrem Oeuvre nachfragt. Diese Fragestellung, auch wenn es im ersten Moment als naiv oder anachronistisch zu scheinen mag, bezieht sich auf etwas grundsätzlich Authentisches und Zentrales im Bereich der künstlerischen Praxis, nämlich auf die Auseinandersetzung mit der kreativen Kompetenz des Künstlers, die Erfindung und Erzeugung neuen künstlicher Gestalten als Vergegenständlichung spezifischer Botschaften anzubieten, welche humane Orientierungen in der Gesamtheit der gegebenen konkreten Realitäten vermitteln. Die Erfindung einer neuen visuell-plastischen Realität, das Schaffen einer früher nichtexistierenden Form ist die Materialisierung des Verhältnisses des Künstlers zu der gesamten – von ihm wahrgenommenen – Realität und die Vermittlung seiner Orientierungslinien und Sensibilitäten, mit denen der Künstler die Welt verinnerlicht und zu verstehen versucht. Dies involviert das Engagement des Künstlers, die Schönheit – beziehungsweise die spezifischen Qualitäten der visuell-plastischen Erscheinung, die unwiderstehliche, berührende sensuelle Wirksamkeit der erzeugten physisch-materiellen Gestalt und die von dieser Gestalt aktivierten Konnotationen als unsere Empfindsamkeit, unsere Sensibilität, unsere Vorstellungskraft erreichende und beeinflussende Entität zu verstehen und verstehen zu lassen. Mit anderen Worten, diese Schönheit entfaltet sich im Bereich der komplexen, vielschichtigen, aktiven Interpretation der künstlichen Gestalt, in dem Prozess der Begegnung mit dieser konkreten, sinnlichen Gestalt, welche durch die imaginären Ausbreitungen der Konnotationen und Assoziationen ein unbegrenztes, immenses Terrain der möglichen Gedankenverbindungen in die Bedeutungsstruktur einbezieht, um dadurch ein hyperintensives sinnliches und gleichzeitig intellektuelles Erlebnis zu animieren.
Die intellektuelle Kontextualisierung der sinnlichen Erscheinungen ereignet sich gleichzeitig auf verschiedenen Gedankenebenen, welche die vom Künstler erzeugte Gestalt durch die Konnotationen und Andeutungen mit unterschiedlichen kulturellen, psychischen und emotionellen, Erfahrungen verbindet. Das so kontextualisierte sinnliche Erlebnis öffnet die Wege für eine äußerst freie, von den konventionellen
Schönheitsvorstellungen befreite, subversive und ungewöhnliche Betrachtungsweise der künstlichen Form, welche sich keinesfalls als Verschönerung der Realitäten, sondern als provokative, offensive Offenbarung eines Schönheitsprinzips als Vitalität, Konzentration, Komplexität und fruchtbare Widersprüchlichkeit, beziehungsweise als Vergegenständlichung der ineinander sich verschmelzenden und in realen Symbiose existierenden Antagonismen, verstehen lässt.
Diese Schönheit, die sie beschäftigt, mag gleichzeitig als exzessiv, provokativ, ungewöhnlich, verwirrend, beunruhigend und jedoch als bewältigend, berührend, genießbar zu sein. Die übertriebene, hyperintensive, obsessive, manchmal sogar schockierende und trotzdem als etwas vollkommen Natürliches erscheinende Sensualität der unbegrenzt reichen, vielfältigen, physisch-materiellen Erscheinung ihres Werkes offenbart etwas Seltenes, Unbekanntes, man könnte sagen: etwas normalerweise Verhülltes, Verborgenes, welches sich nur in besonderen Momenten vor unseren Augen offenbart. Diese sonderbare Äußerung lässt sich als Kundgebung eines vitalen Universums der Unwahrscheinlichkeiten verstehen, welches trotzdem keinesfalls als vollkommen Fremdes oder Obskures vorkommt, obwohl ihre Gestalten, beziehungsweise ihre Gestaltungsprinzipien uns unbekannt bleiben und uns sogar irritieren, da wir uns in dieser Welt nicht auskennen.
Diese Unsicherheit, die Abwesenheit der Eindeutigkeit, die verblüffende, intensive, quasi obsessive Sensualität, welche sich gleichzeitig als extreme Schönheit und als provokative Verwirrung verstehen lässt, verursachen eine Krise der Orientierung, wobei es keinesfalls um eine totale Desorientierung, sondern eher um eine irritierende Vielfalt der Orientierungsmöglichkeiten in der Wahrnehmung geht. Eine verzauberte, poetische, sinnliche, verführerische plastische Realität offenbart sich vor unseren Augen, wobei – trotz der strahlenden Schönheit der exotischen, genussvollen Formen – eine latente, stille Verunsicherung sich in dem Beobachter unvermeidlich entfaltet. Nach dem ersten Blick wird die stille Stimme des Zweifels, beziehungsweise die immer stärker werdenden Befragungen nach der Eigenart der so verführerisch und bezaubernd sich vergegenständlichende Formerscheinung lauter: das unwiderstehliche Gefühl der Ungewissheit beherrscht den Rezipienten. Es offenbart sich eine Vision der enigmatischen, konfusen, obskuren, psychischen, imaginären Sphären unseres Inneren, welche sich trotz ihrer Fremdheit und Sonderbarkeit als eine Form der Natur, als eine andere, besondere, bis jetzt nie gesehene Natur vergegenständlicht. Ihre Vitalität, ihre vegetative Fruchtbarkeit, ihre unaufhaltbare Kräftigkeit ähneln der unerschöpflichen Kraft der physisch-materiellen, unbegrenzten Natur, aber vermitteln eine andere, verborgene, obskure, unerkennbare Natur der Ungewissheiten.
Keiyona C. Stumpf’s Oeuvre ist euphorisch und mitreißend, es bietet dem Betrachter eine berührende und aufwühlende Begegnung mit äußerst offensiven Erscheinungsformen einer ungewöhnlichen, unbekannten, gleichzeitig wunderhaften und verwirrenden, wilden Schönheit, deren Ursprung in der Dunkelheit der Ambiguität bleibt. Diese Schönheit deutet unbekannte Kräfte der Kreation an, deren
Unberechenbarkeit beunruhigend, verwirrend, verunsichernd ist. Diese provokative, hypersensuelle, ungewöhnliche Schönheit lässt sich nicht naiver Weise bewundern, sie schafft keine Harmonie und innere Zufriedenheit, im Gegenteil: sie provoziert unsere Phantasie, um ihre Merkwürdigkeit und verblüffende Besonderheit als etwas Gewöhnliches wahrzunehmen; und gleichzeitig sie wecktt Neugier und Wunsch, ihre verborgenen, dunklen, unerkennbaren Aspekte näher zu beobachten. In diesem Sinne wirkt diese wilde, sonderbare, exotische Schönheit als verführerischer Duft, dem man nicht widerstehen kann, den man immer mehr und mehr einzuatmen wünscht und von dessen Wohlgeruch man sich immer weniger befreien kann. Durch die Begegnung mit dieser sonderbaren, bewundernswerten und gleichzeitig verwirrenden, beängstigenden, verunsichernden Schönheit lassen sich latente, unsichtbare Terrains der Seele aufsperren, öffnen sich Wege zu anderen Erfahrungsebenen, erschließen sich weite Horizonten und Verbindungen mit kulturellen, literarischen, mythischen Narrativen, welche die jeweiligen konkreten Erscheinungsformen dieser enigmatischen Schönheit kontextualisieren. Genau hier lässt sich die Komplexität Keiyona C. Stumpf’s Oeuvre erfassen. Ihr Anspruch, durch die Erschaffung dieser äußerst sensuellen, provokativen, obsessiven plastischen Form die grundsätzliche Ambiguität der gegebenen, existierenden Realitäten in ihrer begeisternden, berührenden und gleichzeitig verwirrenden, verunsichernden Komplexität aufzuweisen und als Natürliches, als Selbstverständliches zu bewerten, verbindet sich mit der kulturellen Kontextualisierung dieser Ambiguität, wobei durch die feine Andeutung der verschiedenen Bedeutungsebenen der Wahrnehmung der plastischen Formen die möglichen Konnotationen und unterschiedlichen Lesensarten einbezogen werden.
Die plastische Erscheinung Keiyona C. Stumpf’s Oeuvre ist von einer triumphalen, obsessiven Sensualität beherrscht. Durch die spezifische Keramik-Technik, die sie in den letzten Jahren, nach den mit verschiedenen Textilien und unterschiedlichen Materien erzeugten Objekten und experimentellen Installationen, entwickelt hat, bekommen ihre Objekte eine ungewöhnlich intensive sinnliche Ausstrahlung, welche Assoziationen aus der organischen Welt aktiviert. Die glänzende, schlüpfrige, Oberfläche ihrer Formen suggeriert weiche Körper, die manchmal an ozeanische Tiere, an Wesen aus dem tiefen Meer, an Seeschlangen oder Perlmuscheln, manchmal an exotischen Pflanzen, an Orchideen erinnern. Und wie in der Natur, wo die atemberaubende Schönheit der Pflanzen und Blumen oft mit mörderischen Kapazitäten, mit giftigem Duft und tödlichen chemischen Prozessen verbunden sein kann, lassen sich versteckte Andeutungen eventueller destruktiver, gefährlicher, aggressiver Assoziationen bemerken. Diese komplexe, gleichzeitig genussvolle und zum Nachdenken zwingende, verwirrende Ambiguität der Konnotationen lässt reiche Gedankenverbindungen mit kulturgeschichtlichen, kunsthistorischen, literarischen Bereichen entfalten. Die von Keiyona C. Stumpf erzeugten Gestalten existieren in einem Zustand der unaufhaltbaren, dynamischen Umwandlung, in einer ständigen Transfiguration als Existenzform der Dinge, wobei diese Dinge gleichzeitig natürlich und künstlich zu sein scheinen. Der Unterschied zwischen den natürlichen, vegetativen, biologischen Entstehungsprozessen und den künstlichen, gedanklich überlegten, von dem Menschen durchgeführten Erzeugungsprozessen wird absichtlich relativiert, um eine allgemeine, unerschöpfliche, mythische Fruchtbarkeit, aller existierenden Wesen zu suggerieren. Die Fluidität der Dinge, die permanente Entstehung nie gesehener Formationen, die Entfaltung unerwarteter, exotischer Gestalten vermitteln die Macht der radikalen Phantasie und gleichzeitig die Fragwürdigkeit der Authentizität der Kategorien und Typologien, mit denen man versucht, sich in dem dynamischen, verwirrenden Chaos der Welt auszukennen. Diese ständige Umwandlung der Dinge, diese vollkommene Abwesenheit jeder Stabilität ist befreiend, subversiv, begeisternd, freudenvoll, wonnig, aber gleichzeitig verunsichernd, verwirrend, beängstigend, weil man sich plötzlich, fast unbemerkt, in der Obskurität der Ungewissheit befindet. Die lustvolle, genießbare Leichtigkeit der permanenten Umwandlung der existierenden Wesen, die Fluidität der picturesquen, bunten, sinnlichen Gestalten im Prozess der Transfiguration verändert sich in dem Wahrnehmungsprozess und lässt das Bewusstsein entstehen, dass man letztendlich der Macht der Ungewissheit und des Zweifels ausgeliefert ist.
Trotz dem Zweifel und der Irritation, trotz der Unerkennbarkeit der sich ständig verändernden Formationen, sind die sich entfaltenden sensuellen Gestalten irgendwie familiär und wirken als Teil eines gigantischen, gewaltigen, natürlichen materiellen Universums, wobei die extremen Unwahrscheinlichkeiten die Gestaltung jeder Formation bestimmen. Diese sich offenbarende Unwahrscheinlichkeit, diese extreme Fruchtbarkeit, die offensive, vegetative Entfaltung der immer neuen und nie gesehenen organischen Gestalten charakterisieren diese rätselhafte Realität, in der die imaginären, merkwürdigen, phantastischen Formationen mit den natürlichen, organischen, bekannten Gestalten verschmelzen, so dass das Ergebnis ein gleichzeitig fassbares, identifizierbares und trotzdem unwahrscheinliches, unerkennbares Phänomen zu der Schau bringt. In diesem organischen, sich als etwas vollkommen Natürliches gebenden Universum tauchen Gestalten auf, welche teilweise an kunstgeschichtlich bekannte architektonische Formen, oder an ornamentale Fragmente erinnern, beziehungsweise gewisse Elemente des Formvokabulars der Kunst der Barock in Erinnerung bringen. Diese exzentrische Ambiguität des Verständnisses des plastischen Formschatz, diese merkwürdige Unentschiedenheit zwischen Natur und Arte Factum evozieren die extrem sinnlichen, pathetischen und fluiden Gestalten des Manierismus und des Barocks, wobei die Umwandlungen der verschiedenen Wesen, die permanente Transfiguration der Formationen gleichzeitig eine euphorische Vitalität, und eine allgemeine Instabilität suggerieren. Als Hajo Schiff in seinem präzisen Text über Keiyona C. Stumpf’s „barockaffine Kunst“ ihre kunstgeschichtlichen Referenzen beschreibt, stellt er die manieristische Formauflösung und die absichtliche Verunsicherung der Interpretation der „Naturformen assimilierenden Arbeiten“ der Künstlerin dar, wobei er die großen weltanschaulichen Veränderungen der Epoche des Manierismus und Barock und ihre Konsequenzen für die Gestaltung als kulturgeschichtlichen Referenz in der Kunst von Keiyona C. Stumpf betrachtet: „Die Renaissance wächst zum Manierismus. Dieser liebt Metamorphosen entsprechende antiplatonische Texte (z.B. Ovids lyrische Verwandlungen, der Atomismus Epikurs) werden wieder rezipiert,
Ornamente und verborgene Linien brechen die Formen (z.B. die „Figura Serpentinata“). Hinter neoantik-rationalen Fassaden verbergen sich nun wüst wuchernde, teils mit Naturfundstücken garnierte Grotten; die bei den ersten Ausgrabungen in und um Rom entdeckten sogenannten Grotesken überwuchern in Nachgestaltungen als transitorische Dekorationsformen die Gewölbe und in den Gärten entstehen naturmystische Orte zwischen Rückbesinnung und Freude an der Nachschöpferkraft“. (1)
Die sich ständig verändernden und ihren organischen oder anorganischen Charakter wechselnden Gestalten schaffen einen Zustand der Undefinierbarkeit, welche die Grenzen zwischen Artefakten und natürlichen Wesen, beziehungsweise zwischen Pflanzen und Tieren verwischt und die Dinge in einer Fluidität schweben lässt. Diese verwirrende Unentschiedenheit kennzeichnet auch die Betrachtung der äußerst sensuellen, oft sogar sexuelle Assoziationen erregenden Formen, wobei die Bewunderung der Schönheit der an exotische, tropische BIumen erinnernden Formen gleichzeitig auch ihre tödliche Fähigkeit, durch giftigen Duft Insekte und andere lebenden Wesen zu töten, in Erinnerung bringt. Ihre Schönheit verwechselt sich zur tödlichen Waffe; ihre verführerische Wunderbarkeit fungiert als gefährliche Falle. Destruktivität, Aggressivität, Gefährdet Sein verbinden sich mit grenzloser Fruchtbarkeit und gesteigerter Sensualität. Abschrecken und Bewunderung wechseln sich ständig; die schöne Oberfläche entlarvt sich als todbringendes Mordinstrument. Dies involviert auch eine latente Aufforderung, diese Widersprüchlichkeit auf einer metaphorischen Ebene zu deuten und die spontane Bewunderung der sinnlichen Schönheit durch subversive intellektuelle Betrachtungsweise zu relativieren, um die versteckte wahre Ambiguität des Phänomens zu enthüllen.
Spontane, vegetative, vitale Schöpfungskraft lebt mit der raffinierten Intellektualität zusammen und dadurch wird die scheinbare Grenzlosigkeit der verführerischen, genussvollen Sensualität, die naive, unschuldige Bewunderung der Schönheit in Frage gestellt. Die Kontextualisierung der scheinbar einfachen sinnlichen Erscheinung aktiviert verschiedene Gedankenebenen, an denen sich unterschiedliche Bahnen der Interpretation öffnen. Diese kulturelle Kontextualisierung macht das Oeuvre von Keiyona C. Stumpf besonders bemerkenswert, da sie bewusst mit den kunstgeschichtlichen Referenzen operiert und durch Gedankenverbindungen und Konnotationen die Bedeutungsstruktur ihrer Arbeiten bereichert. Neben den auf die Formauflösung und Fluidität der manieristischen Kunst und auf die von mythischen Kräften determinierte, universelle Dramatik der Barockkunst hinweisenden Elementen lassen sich auch gewisse Verbindungen mit der Gestaltung der „barocken“ Keramikskulpturen von Lucio Fontana aus den 40er Jahren, bemerken. Seit dem Anfang der 40er Jahre schafft Fontana dynamische figurative Keramikskulpturen, welche den spezifischen Mystizismus des lateinamerikanischen Barocks mit den Konzeptionen der Vitalität, des Expansionismus, der „Räumlichkeit“ („sculture spaziali“) und der Dynamik der Avantgarde verbinden. Fontana versucht in diesen figurativen, aber den menschlichen Körper äußerst auflösenden und in eine räumliche Dynamik gesetzten, in Bewegung gebrachten Skulpturen die Expansion der Massen und ihre Ausbreitung in den umgebenden Raum als pathetischer Akt, als Umdeutung des Raumes zu zeigen, wobei das Einbeziehen des umgebenden Raumes die Grenzen zwischen „leerem Raum“ und „gefüllten Massen“ relativiert, beziehungsweise auflöst. Eine merkwürdige Fluidität charakterisiert diese Figuren, wobei die hysterische, expressive, sinnliche Intensität der dynamisch aufgelösten, verwischten Formen des menschlichen Körpers die plastische Erscheinung zu natürlichen, unbekannten, pflanzenartigen, organischen Formationen umdeutet. In seinem Buch benennt Jole de Sanna Fontana’s damalige Skulpturen als „Barocker Mystizismus“, wobei der exaltierte Mystizismus der Jesuiten-Tradition mit den expansionistischen Ideen der Avantgarde sich vermischt. Jole de Sanna zitiert den Artikel der Tageszeitung El Mundo über Fontana’s Skulpturen: „Die nervöse und aufgewühlte Plastik scheint seine geheimsten Wallungen in der Form zu zeigen, in einem Pathos, das ein Klima atemloser Bedrängung schafft... Das Thema spricht durch die Materie, mit plastischer Vibration, nicht durch Aussagen deskriptiver oder anekdotischer Art.“ (2)
Der Artikel betont den extatischen, exzessiven, pathetischen Charakter der plastischen Gestaltung Fontana‘s „Barock Skulpturen“ und erklärt die Verbindung zwischen „Barockem Mystizismus“ und „Avantgarde Expansionismus“. Was für das Verständnis der Skulpturen von Keiyona C. Stumpf besonders interessant ist, ist die inhaltliche Komplexität, welche durch die Verbindung zwischen der extremen Sensualität der Materien und der mystischen, obskuren Unwahrscheinlichkeiten der Formgebung entsteht. In Keiyona C. Stumpf’s Oeuvre gewinnen gewisse Momente der „Plastischen Vibration“, und der „geheimen Wallungen“ von Fontana’s „aufgewühlten Plastik“ eine Fortsetzung, auch wenn Fontana selbstverständlich in seiner historischen Epoche diese „plastische Vibration“ und gesteigerte Dynamik im Kontext des Expansionismus der Avantgarde konzeptualisiert hat, während die Künstlerin unserer Tage eher die emotionelle Komplexität und Subtilität, die Ambiguität und Unerkennbarkeit des Inneren thematisiert.
Anthony White spricht über Fontana’s künstlerische Intention, welche die Gestaltung seiner sogenannten „Barock-Skulpturen“ bestimmt: “...these works form a part of Fontana’s project of bridging the gap between the material quality of the object and the space around it. This is why the series is titled Spacial Ceramic and why Fontana used highly reflective glaze. In order to properly engage the artwork with the surrounding space, Fontana felt that one could no more produce an airy, weightless artwork than create a sculpture that only emphasized materiality. The highly mobile modelling and the intense reflections in these works are an attempt to keep materiality of the object firmly in place while doing the utmost to visually undermine the material boundaries of the work through reflection.“ (3)
Die Relativierung, beziehungsweise die visuelle Auflösung der Grenzen zwischen den gefüllten, sich „aktiv“ bewegenden, sich offensiv ausbreitenden Massen und dem „leerem“, „passiven“ umgebenden Raum verursacht, wie Anthony White beschreibt, eine grundsätzlich offene Konstellation, wobei die Skulptur sich vollkommen in dem Raum, als Teil des Raumes, als Bestandsteil eines dynamischen, sich ständig neu definierenden und neu konkretisierenden räumlichen Kontext definiert. Keiyona C. Stumpf’s Keramik-Skulpturen operieren mit den ähnlichen Effekten: die glänzende, reflektierende Oberfläche der Skulpturen und die „plastische Vibration“ der aufgelösten Formen relativieren und vermischen die Grenze zwischen den gefüllten materiellen Massen und dem „leeren“ umgebenden Raum. Diese virtuelle Auflösung der physischen, materiellen Massen öffnet freie Wege für räumlichen Imaginationen, welche breite assoziativen Bereiche in die Bedeutungsstruktur einbeziehen und poetische Narrativen andeuten.
Die Künstlerin sieht mit ungewöhnlicher Schärfe die Ambiguität der bewältigenden Schönheit, welche uns gleichzeitig begeistern und beängstigen kann, eben weil sie mit den tiefsten, grundsätzlichsten, existentiellen Gefühlen und seelischen Orientierungen verbunden ist. „Das Berührtsein von besonderer Schönheit in der Natur vermag eine tiefe Sehnsucht in uns zu wecken. Die Furcht vor dem Unbekannten oder Bedrohlichen könnte auf eine tiefere Angst im eigenen Inneren verweisen – vielleicht eine Furcht -, die, wenn man ihr bis zu ihren Wurzeln folgen würde, letztendlich die Furcht vor einer viel gewaltigeren Schönheit ist, die alle gewohnten Kategorisierungen sprengen würde?“ (4) Hier lässt sich ein zentrales Element ihrer künstlerischen Recherchen beobachten, nämlich die Auseinandersetzung mit der Problematik der Befreiung von den gewöhnlichen, von konventionellen Kategorisierungen legitimierten, in den Rahmen der traditionellen ästhetischen Bewertung und Definierung der Schönheit bleibenden Wahrnehmung der „schönen Form“. Dynamik, Komplexität, begeisternde oder abstoßende Sensualität, Harmonie und dämonische Aggressivität, obsessive, spektakuläre Intensität der Konnotationen, welche mehrschichtige kulturelle Andeutungen in die Narrative einbinden, schaffen eine äußerst dichte Bedeutungsstruktur, in der gewisse kunstgeschichtlichen Referenzen aktiviert und aktualisiert werden. Vielleicht diese Aufeinanderschichtung primärer visuell-plastischer Entitäten und subtil angedeuteter kunstgeschichtlicher Referenzen bereichert das Gesamtwerk von Keiyona C. Stumpf in einer ganz spezifischen Weise, wobei die befreite Imagination und die kulturelle Kontextualisierung der plastischen Gestaltung eine fruchtbare Symbiose aufweist.
Die exzessive, provokative Intensität der sensuellen, physischen Entität ihrer visuellen Gestaltung fungiert als subversive, befreiende, anarchisch-kreative Kraft, welche die scheinbare, verführerische Attraktivität der leeren, bedeutungslosen, oberflächlichen, manipulierten Simulacrum-Welt zerstört, ihre banale Spektakularität unglaubwürdig macht und die vitalen kulturellen, historischen, anthropologischen Verknüpfungen der künstlerischen Narrativen intensiviert. Diese komplexe, dichte kulturelle Kontextualisierung der Gestalten der befreiten Phantasie visualisiert die latenten Verbindungen zwischen konkreten, aktuellen, persönlichen Erfahrungen und mentalgeschichtlichen, mythologischen, metaphorischen Erzählungen, welche gewisse archetypische Attitüde-Modelle, Hierarchien, gemeinschaftliche Organisationen und Wertsysteme vermitteln. Vielleicht genau wegen dieser beängstigenden, tiefst beunruhigenden und verunsichernden Ungewissheit entstehen die Gestalten einer obskuren Welt der unerklärbaren, undurchschaubaren Ereignisse, welche einen fatalen Agnostizismus suggerieren. Das Ungewisse, das Enigmatische, das Unerklärbare bekommt in diesen Imaginationen einen begreifbaren, schönen, strahlend sensuellen Körper, ein fassbares Bild, eine erlebbare, sensuelle Erscheinung, welche die tiefen, unsichtbaren, obskuren Ebenen der Existenz ans Tageslicht bringen. In diesem Sinne ist das Oeuvre von Keiyona C. Stumpf äußerst radikal und hart, wirksam und kompromisslos, obwohl diese Radikalität teilweise hinter der verführerischen, sensuellen Fassade der schönen Form versteckt zu sein scheint. Ihre künstlerische Kühnheit, ihr unkonventioneller Mut stellt die traditionelle Auffassung, beziehungsweise die übliche Bequemlichkeit der konventionellen Betrachtungsweise der bildenden Kunst radikal in Frage, während sie die freudevolle, genussvolle, sinnliche Bewunderung nicht nur beizubehalten scheint, sondern sogar verstärkt, gleichzeitig aber durch die intellektuelle Kontextualisierung in den gesamten komplexen Wahrnehmungsprozess einbezieht und konzeptualisiert.
Notizen:
1. Hajo Schiff: Wachsen, Wandel, Weiterungen In: Keiyona C. Stumpf: Natura Naturans, Ausstellungskatalog Galerie-Hengevoss-Dürkop, im Galeriehaus Hamburg, Hamburg 2021., p.3.
2. JoledeSana:LucioFontana–MaterieRaumKonzeptRitterVerlag, Klagenfurt 1995., p.93.
3. AnthonyWhite:LucioFontana–BetweenUtopiaandKitschOCTOBERBooks The MIT Press, Cambridge, Massachusetts London, England, 2011., p.141.
4. KeiyonaC.Stumpf:DieSchönheitdesLebendigenIn:KeiyonaC.Stumpf: Mutual, Ausstellungskatalog Galerie Gedok, München 2017., p.111.